AN DIE NACHGEBORENEN

Gedichte über Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung
und Kompositionen von Hanns Eisler nach Texten von Bertolt Brecht.

Julia Barthe, Gesang
Gerd Jordan, Klavier
Inés Fabig, Rezitation
Andre Rebstock, Idee

Dieses Programm haben wir erstmals Anfang 2019 anlässlich des Gedenktages zur Befreiung von Auschwitz am 27.1.1945 aufgeführt.
Am 27. Januar 2021 haben wir aus dem Lübecker Dom den Stream eines neuen Programmes gesendet, welcher nun bei Youtube verfügbar ist:
https://youtu.be/tzxia28R9B0

Unsere beiden Konzertprogramme enthalten Gedichte über Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung
und Kompositionen von Hanns Eisler nach Texten von Bertolt Brecht.
Brecht und Eisler schrieben die Lieder als Exilanten in den USA, während in Europa Vernichtungskrieg und Nazi-Terror wüteten.

Die Programme haben wir seit Januar 2019 an vielen Orten aufgeführt. Konzipiert haben wir sie, weil in den letzten Jahren viel darüber diskutiert wird, dass jüngere Menschen keine Vorstellung mehr haben, was der Begriff „Auschwitz“ bedeutet, da es immer weniger Überlebende gibt.
Es gibt eine immer stärker werdende Tendenz, die Vergangenheit „abzuschließen“, eine gewisse Gereiztheit, ob man 77 Jahre nach Kriegsende nicht endlich aufhören sollte, dieses Thema immer wieder „durchzukauen“.
Im Zuge der Pandemiebekämpfung haben sich die Fronten zwischen Geimpften und Ungeimpften verhärtet.
Es gibt Ungeimpfte, die sich ausgegrenzt und verfolgt fühlen „wie vor 80 Jahren“, das ist eine grauenhafte Verzerrung.

Es ist verstörend, wie aktuell unsere Veranstaltung durch die gegenwärtigen Entwicklungen geworden ist. Wir wollten eine Antwort auf die Frage geben, ob und warum man sich heute noch mit der Vergangenheit auseinandersetzen sollte.
Seit dem 24. Februar sprechen wir nicht mehr nur von der Vergangenheit.
Uns stockt der Atem, wenn wir die Entwicklung in der Ukraine verfolgen.

Seit 77 Jahren haben wir weitgehend im Frieden gelebt. Alle Menschen, die seit 1945 in Europa geboren sind, haben das unbeschreibliche Glück, keinen Krieg erlebt zu haben. Dieses Privileg hat es in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gegeben.
Die Welt war in dieser Zeit nie friedlich, überall und immer wieder gab und gibt es bewaffnete Konflikte, werden Menschen getötet oder sind auf der Flucht, nur nicht bei uns.

Und nun herrscht Krieg an der Grenze Europas.
Fassungslos stehen wir jeden Morgen auf und wissen nicht, wie die Welt heute aussieht, welche Nachrichten wir hören werden. Das jahrzehntelang gewachsene, mühevoll gepflegte Weltgefüge wird aus den Angeln gehoben,
es drohen grenzenlosen Vernichtungsszenarien.
Aber Einigkeit, Solidarität und Hilfsbereitschaft sind gewaltig, das ist die bewegende Erfahrung dieser Tage.

Was können wir Künstler jetzt tun?

Es gibt keine Worte, die das, was wir zur Zeit befürchten müssen, angemessen ausdrücken können.
Und doch können und wollen wir nicht schweigen und bedienen uns der Worte, die Bertolt Brecht, Sarah Kirsch, Marie-Luise Kaschnitz, Inge Müller, Paul Celan und viele andere Betroffene vor vielen Jahren gefunden haben.

Wir haben zwei unterschiedliche Programme zusammengestellt:
Im einen stellen sich Täter und Opfer im Rückblick die Frage, wie es zu Krieg und Zerstörung kommen konnte, im anderen werden aus der damaligen Zeit heraus Verfolgung, Vertreibung, Flucht und Vernichtung geschildert.

Die Gedichte unseres Programmes, vor allem die Texte, die Inès Fabig lesen wird, sind kaum auszuhalten.
Mit diesem sehr emotionalen Zugang wollen wir ganz bewusst an die Grenzen des Erträglichen gehen, um aufzurütteln und aufzuzeigen, was Menschen Menschen angetan haben und – das ist das Entsetzliche – immer noch und immer wieder antun.

Beide Programme münden in Appelle an die „Nachgeborenen“, also an uns,
das, was geschehen ist, nie zu vergessen und alles in unseren Kräften stehende zu tun, derartige Entwicklungen zu bekämpfen und zu verhindern.

Im Mai 2019 saß in einer unserer Aufführungen Esther Bejerano keine drei Meter vor mir.
Nie in meinem langen Sängerleben habe ich so sehr an dem gezweifelt, was ich mache – vor allem die “Ballade der Judenhure Marie Sanders”, eines der ganz großen Lieder von Esther Bejerano, stand mir regelrecht bevor.
Wer bin ich, diese Lieder zu singen, die ich keine Ahnung habe, was die Menschen in den 30er und 40er Jahren durchgemacht haben?! Ich wollte auf keinen Fall aufgesetzte Betroffenheit “verkaufen” und habe in diesem Moment alles gegeben, was mir an Empathie zur Verfügung steht.
Es hat mich über alle Maßen berührt, dass Esther Bejerano im Anschluss an dieses Lied “Bravo” rief (was eigentlich in diesem Programm nicht angebracht ist). Das war für mich wie ein “Ritterschlag”. Die nächsten Lieder konnte ich nur unter Tränen singen.
Mir wurde bewusst, wie wichtig es ist, diese Texte und diese Musik weiterzutragen und sie an die kommende Generation weiterzugeben.
Zum Nachhören gibt es die “Ballade” als Klangbeispiel:​ https://www.julia-barthe.de/klangbeispiele