Portrait II
hat der Lebenslauf kurz zu sein. Geboten sind Bündigkeit und eine Auswahl von Fakten.
Die Landschaften sind durch Anschriften zu ersetzen,
labile Erinnerungen durch konstante Daten. Von allen Lieben genügt die eheliche,
nur die geborenen Kinder zählen. Wichtig ist, wer dich kennt, nicht, wen du kennst.
Reisen, nur die ins Ausland.
Zugehörig wozu, aber ohne weshalb.
Preise, ohne wofür. Schreibe, als hättest du niemals mit dir gesprochen
und dich von weitem gemieden. Umgehe mit Schweigen Hunde, Katzen und Vögel,
den Erinnerungskleinkram, Freunde und Träume. Der Preis gilt, nicht der Wert,
der Titel, nicht der Inhalt,
die Schuhgröße, und nicht wo
der Mensch, für den man dich hält, hingeht. Dazu eine Photographie mit entblößtem Ohr.
Wichtig ist seine Form, nicht, was es hört… —
Aus: Schreiben eines Lebenslaufs
Wislawa Szymborska – Liebesgedichte
Insel-Taschenbuch 3111, InselVerlag Frankfurt-Main 2005
Wer einen Lebenslauf hat, braucht keinen. Wer einen Lebenslauf braucht, hat keinen.
Wenn „Karriere“ Geld, große Namen und Reisen bedeutet, habe ich keine Karriere gemacht.
Im Studium war ich gar nicht erfolgreich, mein Diplom habe ich „mit dem Prädikat bestanden bestanden“ (kein Witz!).
Erwähnenswerte Stipendien oder Preise kann ich nicht vorweisen, und wenn, dann wären sie lange verjährt.
Vieles von dem, was ich mir vorgenommen oder erhofft hatte, ist mir nicht gelungen, dabei waren meine Wünsche eigentlich vergleichsweise bescheiden. Ich hätte gern im Rundfunkchor gesungen und an einer Hochschule unterrichtet – allerdings sollte das alles in Hamburg stattfinden. Aus dieser Stadt bin ich nie herausgekommen, daran wird sich nun auch nichts mehr ändern.
Das Auf und Ab des Lebens habe ich in vielen Facetten erfahren. Dafür musste ich nicht einmal mein Haus verlassen.
Ich habe intensive Beziehungen gepflegt und viel Zeit mit meinen Kindern verbracht, Menschen durch schwere Krankheiten, beim Altwerden und auch in den Tod begleitet, dramatische Abschiede und Trennungen erlebt.
Mittlerweile gehe ich auf die 60 zu. Nachdem ich 30 Jahre lang als Solistin im Oratoriengeschehen aktiv war, habe ich mich im Jahr 2019 mit einer Andacht im Michel davon verabschiedet. Das war schmerzlich, aber es ist der Lauf der Dinge, und ich habe Frieden damit geschlossen. https://www.vom-ende-her-gedacht.de/30-jahre-michel/
Die so gewonnene Freiheit ermöglicht es mir, viele spannende Projekte ganz unterschiedlicher Art zu konzipieren.
Neben dem Singen und Unterrichten hat das Schreiben eine große Bedeutung in meinem Leben gewonnen. https://www.vom-ende-her-gedacht.de/
Und 2021 hat sich eine neue Tür, besser gesagt, ein neues Tor geröffnet: Seitdem bin ich Vorsitzende des Kulturkreises im Torhaus Wellingsbüttel: https://www.kulturkreis-torhaus.de/
Hier fügt sich alles zusammen, wofür ich schon mein Leben lang brenne.
Vor einigen Jahren begegnete mir das Prinzip des “Ikigai”, da stellt man sich vier Fragen:
Was kann ich gut?
Was ist meine Leidenschaft?
Was braucht die Welt von mir?
Womit verdiene ich mein Geld?
Die Schnittmenge all dieser Fragen ist die Antwort auf die Frage, wofür man morgens aufsteht. Meine spontane Reaktion war: Das ist ja einfach!
Kultur und Menschen,
Kultur und Menschen,
Kultur und Menschen,
Kultur und Menschen!
Das erklärt, warum ich so gern früh aufstehe und mit großer Freude 20 Stunden die Woche ehrenamtlich tätig bin.
Wenn es auf der Welt kein Geld gäbe, würde ich keine Stunde weniger „arbeiten“. Nach wie vor bastle ich mit Begeisterung an meiner Stimme, das Unterrichten erfüllt mich, mit meinen Schülern bin ich freundschaftlich verbunden, alles findet in meinem schönen Zuhause statt, und der Kulturkreis ist ganz in der Nähe, daher wüsste ich gar nicht, von wem und wovon ich Urlaub machen sollte.
Wie privilegiert ich bin, ist mir sehr bewusst, und ich bin unendlich dankbar, dass sich mein Leben nach vielen Umwegen so entwickelt hat!